Verantwortung der Geschäftsleitung für die Einrichtung und Überwachung angemessener Compliance-Strukturen?
Urteil des OLG Nürnberg vom 30. März 2022
Das OLG Nürnberg hat sich am 30. März 2022 in einem viel beachteten Urteil (Az. 12 U 1520/19) u.a. mit der Frage auseinandergesetzt, ob und inwiefern der Geschäftsführer einer GmbH für die Einrichtung und Überwachung eines angemessenen Compliance Management Systems (CMS) Sorge zu tragen hat. Die Antwort des Gerichts fiel denkbar deutlich aus und bekräftigt die in Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegende Auffassung, wonach aus
„der Legalitätspflicht […] die Verpflichtung des Geschäftsführers zur Einrichtung eines Compliance Management Systems, also zu organisatorischen Vorkehrungen, die die Begehung von Rechtsverstößen durch die Gesellschaft oder deren Mitarbeiter verhindern [folgt].“
Worum ging es?
Die Klägerin, eine GmbH & Co. KG, machte gestützt auf § 43 Abs. 2 GmbHG Schadensersatzansprüche gegen den Geschäftsführer ihrer Komplementärin geltend. Diesem warf sie vor, seine Sorgfalts- und Überwachungspflichten (insbesondere die Einhaltung des Vier-Augen-Prinzips, „two-man rule“) im Zusammenhang mit der Schädigung des Unternehmens durch Untreuehandlungen eines Mitarbeiters verletzt zu haben.
Bei der Klägerin handelt es sich um ein mittelständisches Unternehmen, das Mineralölprodukte an seine Kunden vertreibt. Kunden, die über einen Fuhrpark verfügen, erhalten von der Klägerin Tankkarten. Diese ermöglichen eine bargeldlose Bezahlung an den von ihr betriebenen Tankstellen. Mehrere Kunden der Klägerin waren 2012 aufgrund wirtschaftlicher Probleme nicht in der Lage, ihre Tankrechnungen zu begleichen.
Der u.a. für die Betreuung von Kunden- und Tankkarten zuständige Mitarbeiter erkannte dies, veranlasste aber gleichwohl keine Sperrung der den Kunden zugewiesenen Tankkarten. Vielmehr duldete er nicht nur die Überziehung der jeweils eingeräumten Kreditlimits, sondern verschleierte deren Überziehung, indem er die überzogenen Tankkarten anderen Kunden zuordnete. Das Vorgehen des Mitarbeiters blieb unentdeckt, weil in dem betroffenen Geschäftsbereich das Vier-Augen-Prinzip nicht eingehalten wurde.
Das LG Nürnberg-Fürth gab der Klage im Wesentlichen statt und verurteilte den Geschäftsführer zur Zahlung von Schadensersatz und außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte in der Sache nur geringfügigen Erfolg.
Was entschied das OLG Nürnberg?
Das Gericht stellte zunächst die Grundsätze der Geschäftsführerhaftung für (risikoreiche) Geschäftsentscheidungen dar. Hierbei rekurrierte das OLG Nürnberg auf die Business Judgement Rule und den weiten Handlungs- und Beurteilungsspielraum der Geschäftsleitung außerhalb zwingender gesetzlicher Vorgaben.
Unternehmensorganisations- und Überwachungspflichten der Geschäftsleitung
Bezogen auf Inhalt und Umfang der Sorgfaltspflichten der Geschäftsleitung stellte das Gericht fest, dass diese eine unternehmensinterne Organisationsstruktur schaffen muss, die die Rechtmäßigkeit und Effizienz ihres Handelns gewährleistet. Die Sorgfaltspflicht konkretisiere sich so zu „Unternehmensorganisationspflichten“:
„Der Geschäftsführer muss das von ihm geführte Unternehmen so organisieren, dass er jederzeit Überblick über die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Gesellschaft hat. Dies erfordert ggf. ein Überwachungssystem, mit dem Risiken für Unternehmensfortbestand erfasst und kontrolliert werden können.“
Das Gericht stellte explizit klar, dass aus der Legalitätspflicht eine Verpflichtung der Geschäftsleitung zur Einrichtung eines CMS erwachse, also zu organisatorischen Vorkehrungen, die die Begehung von Rechtsverstößen durch die Gesellschaft oder deren Mitarbeiter verhindern. Aus dieser generellen „Compliance-Verpflichtung“ der Geschäftsleitung resultieren mehrere Einzelpflichten, u.a. die Pflicht,
- den Geschäftsgang so zu überwachen bzw. überwachen zu lassen, dass unter regulären Umständen mit einer ordnungsgemäßen Erfüllung der Geschäfte gerechnet werden kann;
- geeignete organisatorische Vorkehrungen zu treffen, um Pflichtverletzungen von Mitarbeitern zu verhindern;
- sofort einzugreifen, wenn sich Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten zeigen.
Eine angemessene Kontrolle beinhaltet danach grundsätzlich die Durchführung stichprobenartiger, überraschender Prüfungen. Darüberhinausgehend können andere geeignete Aufsichtsmaßnahmen (z.B. umfassende Audits) erforderlich sein, wenn abzusehen ist, dass Stichproben nicht ausreichen, um die bezweckte Wirkung zu erzielen. Eine gesteigerte Überwachungspflicht trifft die Geschäftsleitung auch dann, wenn es in der Vergangenheit im Unternehmen bereits zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist.
Pflichtendelegation durch die Geschäftsleitung
Zudem befasste sich das Gericht mit der Frage der (vertikalen) Delegation der Überwachungspflicht durch die Geschäftsleitung. Zwar reduziere sich die effektive Überwachungspflicht der Geschäftsleitung durch eine wirksame Delegation auf die unmittelbar unterstellten Mitarbeiter und deren Führungs- bzw. Überwachungsverhalten („Überwachung der Überwacher“, sog. Meta-Überwachung). Die Oberaufsicht verbleibe indes auch im Falle der mehrstufigen Verteilung von Aufsichtspflichten „unentrinnbar“ bei der Geschäftsleitung.
Pflichtverletzungen des Geschäftsführers
Im Ergebnis befand das Gericht, der Geschäftsführer habe seine gegenüber der Gesellschaft bestehende Sorgfaltspflicht verletzt, indem er es – trotz Bestehen einer gesteigerten Überwachungspflicht – unterließ, ein Kontroll- und Überwachungssystem einzurichten. Insbesondere sei dem Geschäftsführer anzulasten, dass er in dem sensiblen Bereich der Tankkartenausgabe und -zuordnung an Kunden auf die Durchsetzung des Vier-Augen-Prinzips verzichtet habe. Ferner habe er es pflichtwidrig unterlassen, Stichprobenkontrollen und Compliance-Schulungen durchzuführen sowie Mitteilungs- und Dokumentationspflichten der Mitarbeiter durchzusetzen.
Was bedeutet das Urteil des OLG Nürnberg für Unternehmen?
Die Entscheidung des OLG Nürnberg ist grundsätzlich rechtsformunabhängig für sämtliche Unternehmen (KMU und Konzerne gleichermaßen) von erheblicher Bedeutung. Sie bekräftigt die Bedeutung von Compliance-Maßnahmen – u.a. des Vier-Augen-Prinzips – zur (präventiven) Kontrolle, Vermeidung und Detektion von Pflichtverletzungen aus Unternehmen heraus. Zugleich bieten die Ausführungen des Gerichts zu den notwendigen Compliance-Maßnahmen einen normativen Rahmen, an dem sich Unternehmen im Rahmen ihrer Compliance-Bemühungen zumindest teilweise orientieren können. Das Urteil verdeutlicht schließlich, dass etwa Compliance-Schulungen, Audits oder sonstige Compliance-Maßnahmen nicht bloß „nice to have“ sind, sondern im Krisenfall haftungsvermeidend oder zumindest -reduzierend wirken können („Compliance Defense“).
Zugleich werden die zivil- und strafrechtlichen Haftungsrisiken für Geschäftsleitungsorgane im Falle mangelhafter (Compliance-)Organisationsstrukturen in den Fokus gerückt. Während es in dem zugrunde liegenden Fall um eine zivilrechtliche Haftung des Geschäftsführers nach § 43 Abs. 2 GmbHG ging, lassen sich die Erwägungen des Gerichts ohne Weiteres auf straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Vorwürfe übertragen.
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